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Optische Organisation der Archetypen[1]
Lothar Fischers Kunst der SPUR-Jahre

Veit Loers

 

 

„Ich arbeite nur aus der Vorstellung. Das Wesentliche ist dabei, dass ich was erfinde. Das erfinderische Moment ist bei mir der Anreiz zur neuer Figuration. Selbst wenn ich immer dieselbe Figur mache, ist keine wie die andere. Weil ich immer ein Moment beim Machen, eine Erfindung vom Motiv betone, das andere zurückdränge, einfach durchs Machen von selber mir andere Variantent unterkommen.“[2]

Als Lothar Fischer in einem Interview diese Ideen zu seiner Gestaltungsmotivation äußert, ist er längst ein etablierter Künstler und ordentlicher Professor an der Hochschule der Bildenden Künste in Berlin. Das Frühwerk, die Zeit mit der Gruppe Spur, für die man sein Statement vor allem in Anspruch nehmen möchte, liegt fast zwanzig Jahre zurück und nimmt im Verhältnis zum gesamten Oeuvre Fischers nur einen kleinen Raum ein - allerdings einen bedeutenden.

Im Nachhinein ist nur schwer feststellbar, was sich an Erfindungen aus der Gruppendynamik der Spur heraus entwickelte und was sich Schritt für Schritt aus eigenen Ansätzen ergab. Aber als sicher darf gelten, dass die Entäußerung innerhalb der Gruppenarbeit Lothar Fischers unverwechselbaren Skulpturenstil der Spur-Lehre bewirkt hat. Seine Sonderrolle bestand darin, dass er der einzige Bildhauer der Gruppe war, die wie ihr großes Vorbild, die Gruppe Cobra, eine reine Malerbewegung darstellte. Was die anderen Mitglieder, Heimrad Prem, Helmut Sturm und HP Zimmer an theoretischem Gedankengut und Einfällen entwickelten, war letztich immer auf die Umsetzbarkeit in Malerei ausgeheckt worden. Fischer bezog zwar Malerei in seine Skulpturen mit ein, blieb aber als  Bildhauer immer den Problemen des Plastischen und Räume verhaftet. Mit der Erweiterung des Malerischen in den Raum konnte die Spur ihren Anspruch nach Ganzheitlichkeit anmelden, der in den Manifesten, der Verbindung zur Situationistischen Internationale und dem Auftreten der Gruppe zum Audruck kam. Die etwa gleichzeitig in Wien agierende Gruppe der Aktionisten bestand ebenfalls aus ehemaligen Malern, die das Bild verlassen hatten, um die Malerei als Aktion ins Leben sekbst zu verankern. und andere Gruppierungen wie die Gruppe Zero oder die Nouveaux Réalistes, hatten alle, wenn auch mit anderen Zielsetzunqen, die Malerei erst einmal verlassen, um Kunst in erweiterten Dimensionen durchzuführen. Die Spur berief sich auf Dada nur, wenn es um Zerstörung überkommener ästhetischer Werke ging. Das Malen wollte sie keineswegs aufgeben, ein Faktor, der schließlich ihren Ausschluss aus der „Internationale Situationniste“ bedeutete. Als man nach 1965 daran ging, im Rahmen der Gruppe Geflecht malerisch den Raum zu erobern, war Lothar Fischer nicht mehr dabei. ohne die Gruppe Spur war aber auch er wieder zum reinen Plastiker geworden. Lothar Fischer war Mitglied der Gruppe Spur. Er blieb aber immer auch er selbst. Seine Skulptur „Entwurzelter Berg“[3], ein Doppelkegel aus Terracotta mit Augen und zylindrischen Beinen, die er auf einer Ausstellung im Schwabinger Kunstzelt im Sommer 1958, übrigens der ersten Ausstellung, der im Winter zuvor gegründeten Gruppe ausgestellt hatte, kaufte ausgerechnet Asger Jorn, der auf Einladung des Galeristen Otto van der Loo erstmals in München war, für 80,- DM. Bleibt zu erwähnen, dass die Zeltausstellung zum 750-jährigen Jubiläum der Stadt München aus einer Initiative von Gastwirten entstand. An Fischer bewunderte man schon in der Akademiezeit das Geschick seiner Modellierung. auf den wenigen Fotos der Gruppe, aus diesen Jahren trägt er fast immer im Gegensatz zu seinen Mitstreitern Sakko und Architektenfliege. In einem Brief an den Mailänder Sammler Marinotti von 1965 unterzeichnet er scherzhaft mit „Iothario (notario)“,ein Kosewort, das sich vermutlich Marinotti selbst bei einem der fröhlichen Kneipenzusammenkünfte ausgedacht hat. Der sohn einer Kunsterzieherfamilie wird schon früh vom Pfälzer zum Oberpfälzer. Man übersiedelt vom Rhein nach Neumarkt i.d. Oberpfalz, bevor Fischer auf der Münchner Akademie in Berührung mit den bayerischen „Waldlern“ Sturm und Prem sowie dem Berliner Zimmer kommt. Lothar Fischers Kleinskulpturen der Jahre 1956/57 sind perfekt modelliert, nicht Nachahmungen, sondern wie Bernd Krimmel schreibt, Huldigungen an das, was er kennt: Marino Marini, Toni Stadler und seinen Lehrer Heinrich Kirehner.[4] Aus dieser braven Archaik ist er bald hinaus, begibt sich ins Genre der Art Brut hinein. Der „Entwurzelte Berg“ erinnert beinahe an die Titelillustration von Alfred Idrrys „Ubu Roi“. 1964 sieht man zwar in Venedig die Gruppe Spur auf Fotos mit Dubuffet vereint, der ebenfalls bei „Visione et colore“ ausstellt, doch die aus ungewöhnlichen Materialien bestehenden Skulpturen des glatzköpfigen Entertainers müssen ihn schon einige Jahre zuvor interessiert haben.

1954 schuf Dubuffet, beeindruckt von den Skulpturen Gaston Chaissacs, eine Serie von Figuren aus Holzkohle, alten Weinstöcken, Schwämmen, Treibholz, Lavagestein und Eisenschlacke. die spukhaften Gestalten, erinnernd an Alraunen oder Fetische werden durch ihre humorvollen Titel in Relation zu moderner Skulptur gebracht. Art Brut wird sozusagen sophistisch unterlaufen. Lothar Fischers Reaktion darauf spürt man schon 1958 in Bronzen wie „Fisch“, obwohl hier das Vorbild Cimiotti unverkennbar ist. Im Interview von 1979 bekennt er: „Pollock, Wols, Dubuffet. das war für uns ein grundsätzlich neuer Humus.[5] Der Spur-Prozess brachte dann aber doch etwas anderes zutage als eine neue Art Brut. auffallend ist, wie die Gruppe von Fischer, Prem, Sturm und Zimmer bemüht war, die Kunstgeschichte der Moderne zu analysieren und ihren eigenen Stellenwert zu bestimmen, gegen die „Unverbindlichkeit des Informel“. „es wurde weltweit gespritzt und mit dem Fahrrad über die Leinwand gefahren“, erwähnt Lothar Fischer und bezieht sich auf Pinot Gallizios „Laboratorio sperimentale“.[6] 1958 hatte der Expressionistensammler, Autor und Verleger Lothar-Günther Buchheim ausFeldafing ein Karikaturenbuch mit dem Titel „Wie malt man abstrakt?“ herausgegeben, dessen Texte in der Art einer Anleitung offensichtlich von ihm, der mit dem Informel nichts anfangen konnte, beeinflusst sind und sich humoristisch ausschließlich auf die experimentelle, automatistische Endphase des Tachismus beziehen. Unter dem Begriff „Pedalismus“ bzw. „Pneumismus“ finden sich dort Anspielungen auf Pinot Gallizios Fahrrad- und Autospuren. Unter dem Stichwort „Konkretismus« wird mit einer Kelle Mörtel gegen die Leinwand geworfen. Der Mörtel wird mit allerlei Unrat gemischt. Auch Fischer sprach von Konkretion. Sein Ziel jedoch war es, aus Materialien und Vorgängen Figurationen entstehen zu lassen. Aus abstrakten Gegebenheiten wurden figurative Anlässe, die alle Details miteinbeziehen. Was Lothar Fischer 1979 so formuliert, trifft am ehesten auf die erste pPhase der Spur-Zeit zu, den so genannten Facetten-Raum-Stil der Jahre 1960/61.

Eine Reihe von Skulpturen, die aus dem Nachlass des großen Spur-Förderers Marinotti stammen, zeigen, um was es geht. denn es sind darunter Skulpturen

der Jahre von 1959 bis 1962, die vor dem Hintergrund der bekannten und publizierten Werke das Verständnis für die Gestaltungsprinzipien erweitern. Die Früheste ist eine kleine Bronze mit dem Titel „Wunderlampe“, eine polypenartige Plastik von 1959, die informelle Qualitäten in der Art eines Kenneth Armitage mit den Kunstprozess einbegzogenen Gussstegen und -kanälen verbindet und auf einem Dreifuß steht. Aus dem gleichen Jahr scheint die Bronze „Bimbo in spalla“ (Kind auf Rücken) zu sein, eine Art Reiterskulptur, die der Bronze „Ritt ins Morgenland“[7] in Aufbau und Duktus sehr ähnlich ist. Das Motiv ist aus einer Gipsscheibe entwickelt und trotz Stockelplatte entsprechend flach und einansichtig: Eine Art Ungeheuer mit mehreren Fratzen und einer Kindesassoziation in Reliefform im Mittelteil. Diese, vom Künstler als „Scheiben“ benannte, Pfannkuchenartige mit kleinteiligen Strukturen versehene Gebilde, die sich aus vielen Teilen oder Facetten zusammensetzen, entbehren noch räumlicher Spannung. Die Möglichkeiten sind quasi in die Fläche projixiert. Eine weitere Kleinplastik mit dem Titel „Cavaliere su pesce volante“ (Reiter auf fliegendem Fisch) entwickelt bereits mehr Vlumen. Krater, Ausbuchtungen und spitze Extremitäten bestimmen das Gesamtbild, das auf einem Stab montiert ist. Man glaubt ein hechtartiges Maul zu erkennen und darüber einen mit den Armen fuchtelnden Reiter. Unwillkürlich stellen sich Motiv-Visionen von Hieronymus Bosch ein, wo seltsame Wesen auf Monstern, Fischen und Vögeln reiten und Menschen von Ungeheuern umklammert werden. In diese Reihe gehört auch die Bronzeskulptur „Hl. Sebastian“, die 1986 in Regensburg ausgestellt war.[8] Das aus der Zeichnung stammende metamorphe Element hat Fischer in einem späteren LSD-Experiment vom Anfang der siebziger Jahre, an dem namhafte Künstler teilnahmen, wie folgt beschrieben: „Zuerst wollte ich auf dem Blatt nur einen Arm zeichnen. aber das, was ein Arm sein sollte, hat sich auf einmal als zu einem Tier gehörig herausgestellt. Schließlich wurden es lauter Schuppen“.[9]

Bei wenig späteren Bronzeskulpturen wie „Bimba con bambola“ (Kind mit Puppe), auch „Windmutter“ genannt, oder „salome 11“ sowie drei namenlosen Bronzen herrscht der unheimliche Geist Boschs weiterhin vor, aber auch modernes. die facettierten Beast-Statuetten von Lynn Chadwick vom Ende der fünfziger Jahre gehören in dieses Genre hinein. es hat sich jedoch etwas Entscheidendes verändert. Die grotesken Bronzen öffnen sich in den Raum, sind wie einem starken Sturm ausgesetzt, der sie treibt. Deutlich spürt man den Einfluss der gemeinsamen Spur-Arbeit, die auch von nun an Fischers Zeichnungen beherrscht. eine wolsartige schwerelose Welt scheint die kleinen Bildwerke aufzunehmen. Den statischen Standproblemen wird aus dem Wege gegangen. Die „Bimba con bambola“ besteht nur aus diagonalen Fliehkräften, „Salome 11“, ein kleines Pirouetten drehendes Ungeheuer, bedarf eines Betonsockels, um nicht umzukippen. Ein größeres Monster (Mostro) von 1961 auf hohen, dünnen röhrenförmigen Beinen mit einer Art Topfhelm und spitzen Hörnern steht etwas wackelig auf einer spitz zulaufenden Bronzeplatte, und für zwei weitere Organformen mit krebsartigen Scheren und Fühlern lässt sich kaum noch die Aufstellung ermitteln. Das Spur-Heft 1vom August 1960 produziert in seinen von Fischer gezeichneten Initialen, die gemarterte, gekreuzigte und gepfählte Menschen darstellen, ähnliche Schreckensvisionen: Man fühlt sich als „geistiges Proletariat vor den Toren der jetzigen Gesellschaft“. Die Abkehr von der normalen Figur, das Aufbauen von der Fläche her, das Einrollen der Ränder und auszipfeln der Ecken nimmt die wechselnden Formen eines Tintenkleckses im Wasser an. Vierdimensional, die Forderung schon der Futuristen und an sie anschließend Fontanas Manifesto blanco, reicht nicht mehr. im Artikel 16 des Spur-Manifestes von 1958 ist von Polydimensionalität die Rede, und über Kokoschka entdeckte man den polyfokalen Raum in den Rokoko-Deckenfresken Süddeutschlands.

1961 erhält Lothar Fischer das Stipendium der Villa Massimo in Rom, wo er sich in der Folge aufhält, während Prem, Sturm und Zimmer zu Jörg Nash, dem

Bruder Jorns, nach Draggabyket in Schweden reisen. Die Bronzeformen werden nun wieder beruhigter, kastenförmig, wie der „Primo uomo« (Erster Mensch), auch „Pegasus“ benannt, zeigt. Die Außenformen sind wie große Blätter oder gerollte Teigfladen übereinander gelegt und die Oberfläche mit Stegen und erhabenen applizierten Lettern partiell bedruckt. Neben dem Titel „Primo uomo“ liest man „spazio“ und „Spur“. Römische Ideen konterkarieren das aufgesplitterte Konzept des Facettenstils. Der aufspringende Pegasus mit seinem Reiterrelikt lässt, was die Oberfläche betrifft, auf Kenntnis römischer republikanischer Bronzen schließen, die Fischer in römischen Museen gesehen haben muss. Freilich wäre auch auf Eduardo Paolozzi hinzuweisen, der in den späten fünfziger Jahren seine Bronzeskulpturen mit Applikationen versehen hat. Heißt das Programm nun: Art brut auf Antik?

Zwischenzeitlich hatte man die Bekanntschaft mit dem Mailänder Grafen Dr. Paolo Marinotti gemacht. Der millionenschwere Erbe einer Textilfirma in Mailand hatte eine große Kunstsammlung, in der Max Ernst und Asger Jorn, die öfter in seiner Villa in Vittorio Veneto Ferien machten, eine besondere Rolle spielten. Den Kontakt zu dem italienischen Mäzenaten hatte Jorn hergestellt und ihm auch offensichtlich Lothar Fischer als den Begabtesten empfohlen. Marinotti lässt sich von Sisto dalla Palma, der dem von Marinotti geleiteten „Centro internazionale delle arti edel costume“ angehört, ein Gutachten über die Gruppe anfertigen. Die Ausführungen, die mehr über die Spur-Hefte als über die künstlerischen Arbeiten der deutschen Künstler enthalten, sind dem Auftraggeber offensichtlich zu schwammig. Er fordert in einer handschriftlichen Marginalie ein „giudizio chiaro sul valore ideale e sul contenuto programmatico“ (ein klares Urteil über den ideellen Wert und den programmatischen Kontext) an. Im Nachlass Marinottis gibt es jedenfalls ein Memorandum (auf Deutsch übersetzt), in dem im wesentlichen folgendes festgehalten wird: Jeder der Künstler erhält bis zum 15. oktober 1961 ein viertel Jahr lang 200.000 Lire monatlich. Das waren nach dem damaligen Umrechnungskurs ungefähr 1250,- DM. Dafür errechneten sich 600 Punkte pro Maler, für die Marinotti sich Arbeiten aussuchen konnte. der größere Teil des Memorandums bezieht sich auf „Sonderbedingungen für Fischer“. Hier wurden die Ratenzahlungen als Vorschuss auf den Kauf von Skulpturen angesehen, inklusive des Gusses. Gusskosten in Mailand oder München werden mit der Einladung in die Marinotti-Villa nach Vittoria Veneto verrechnet oder vom Vorschuss abgezogen. Die Rede ist von einem „cavallo“, „totem“, einem „mostro“ und Plastiken mit dem Titel „cavaliere seduto“ und „Frau des Ikarus“. mit „cavallo“ könnte die kleine Reiterskulptur gemeint sein, die Fischer in der Villa Massimo anfertigte[10] „Mostro“ (Monster) dürfte das Bosch-Ungeheuer mit den Hörnern sein, das bereits erwähnt wurde. Ein Brief Lothar Fischers an Marinotti vom 25. mai 1961 aus der Villa Massimo in Rom geschrieben, bietet drei Bronzeskulpturen zum Kauf an, nachdem der Sammler und seine Frau Gretel den ersten Atelierbesuch in München ohne Fischers Dabeisein gemacht hatten und sich offensichtlich für drei Arbeiten entschieden hatten. Die Bronzen können leicht identifiziert werden, da Fischer sie im Brief skizziert hat. es sind „Wunderlampe“, „bimba con bambola“ und „cavaliere su pesce volante“. Der Kauf kam jedenfalls zustande, da alle drei Skulpturen aus dem Nachlass Marinottis nachzuweisen sind.

Aus Rom gibt es noch einen zweiten Brief Fischers vom 22.7.1961, worin er ihm eine weitere Skulptur anbietet.

„In letzter Zeit vor allem habe ich mich mit Collagen und Montagen in der Plastik beschäftigt. Aus dieser Experimentierfreude heraus habe ich eine größere Plastik aus Holz, Pappe, Korbgeflecht, altem Besen, Wachs u.s.w. gemacht, die für meine Begriffe sehr gut geworden ist. Nun ist die Plastik so groß geraten, dass es mir schwer fälIt, den Guss dafür zu bezahlen.“

Der Stipendiat bietet das Werk „zum quasi Selbstkostenpreis“ von 300.000 Lire an. Der „cerberus , wie ihn Fischer nennt, ist ein hockendes U geheuer mit Glotzaugen und Stab, wie eine Karikatur auf dem Briefbogen zu erkennen gibt: Die Skulptur ist dort bereits auf einem Wagen mit Traktor nach Milano unterwegs. Doch scheint sie den Grafen nie erreicht zu haben.

Als ein Hauptwerk der ersten Spur-Jahre ist die große Bronze „cavallo – cavaliere“ von 1962 (auch großer wilder Reiter benannt) anzusehen. sie ist farbig gefasst, auch wenn derzeit die Spuren der langen Außenlagerung diesen Akzent verdunkeln. Das Pferd ist in Cavalcante-Stellung, also sich aufbäumend. Den Reiter versteht man als Andeutung ritterlicher Gerüstetheit. Assoziativ würde man eher Hoch- als Spätmittelalter vorschlagen, und in den nach vorne gestreckten Armen könnte man sich noch eine Turnierlanze vorstellen. Die Hinterbeine des Pferdes sind so lang, dass man vermuten könnte, sie gehörten dem - proportional gesehen - großen Reiter. Dann wäre das Pferd ein Steckenpferd. Lothar Fischers „weiche“ Behandlung der Oberfläche war nach Primo uomo keine Überraschung mehr. das wie aus „carta pesta“ assemblagierte Werk legt keinen Wert mehr auf einen inneren Kern. Viel mehr ist die Oberfläche präsent, die dem Facetten-Stil Modernität und groteske Zuversicht anheimstellt. Fischer bringt narrativ das auf den Punkt, was sich um 1961 zwischen so unterschiedlichen Positionen und Levels wie Karl Otto Hajek und Claes Oldenbourg bewegt.

Das Motiv von Pferd und Reiter, das im Mittelpunkt seiner Arbeit steht, ist ein Motiv, das noch ganz in den fünfziger Jahren wurzelt. Abgesehen von Marino Marinis sehr präsenten Reiterskulpturen gab es eine spezifische Münchner Tradition, die über Hans Wimmer zu Fritz Koenig führte, der mit seiner Frau auf dem Ganselberg unweit Landshut selbst Pferde züchtete. Bei Koenig taucht bereits jene Reiterverschmelzung von Einzelfigur mit blockartigen Massen auf, die Fischer auf seine Weise 1963 im „Reiterschiff“ aufgreifen wird. Auch Heimrad Prem und Helmut Sturm haben sich mit der Reiter-, Ritter- und Reiterschlacht thematisch vertraut gemacht. Ob Uccellos Reiterschlachten, mittelalterliche Buchillustrationen oder griechische dchwarzfigurige Reiterdarstellungen als Idee erscheinen, stets geht es um psychomachie, die Überwindung des Triebhaften, ein Thema, das im Lapiden- und Kentaurenkampf seit der Antike seine klassische Form gefunden hatte.Lothar Fischer schuf 1962 für Marinottis Mailänder Haus zwei identische Heizungsverkleidungen aus Bronze, die, wie zu vermuten ist, sehr frei das Thema Reiterschlacht bzw. Psychomachie beinhalten. wie im Book of Keils mit seinen Flechtwerkornamenten überzieht ein Gitter von Relieffiguren und organischen Formen das Rechteck vor dem Heizkörper, ein Arsenal oder Bestiarium von Einzelteilen, die mit Bändern oder Stegen verknüpft sind. Wenn auch krebsartige Ungetüme mit Knopfaugen - auf alle vier Richtungen der Seiten bezogen - dominieren, ist die Idee der Psychomachie unverkennbar. der teigige Charakter der Ausführung lässt dabei eher an Ton als an Bronze denken, und so überrascht es kaum, dass ein weiteres wichtiges Werk von 1962, das 2x3 Meter große Relief für die Schule in Neumarkt, aus Betonplatten besteht, die partiell rot und schwarz gefasst sind.[11] Dennoch müssen die „Psychomachien“ der Heizungsverkleidung als das wichtigere Werk im Oeuvre Fischers angesehen werden. Die schillernde launige Flächenwelt, die Groteskes, Bedürftiges, Humorvolles und Böses miteinander verwebt,erinnert den späteren Interpreten nicht nur an den Geist so mancher Comicwelt, sondern nimmt auch Computerspiele wie Super Mario vorweg.

Fischer hatte es mit diesen Skulpturen von 1962 nochmals erreicht, die unheimliche und zugleich groteske Note seiner früheren Skulpturen in der  Entwicklung der weichen präpopartigen Formensprache ab 1961 zu bewahren. Ab 1962 dominierten jedoch Tonskulpturen, die eine andere, märchenhafte Stimmung in den Vordergrund rückten. Über sie soll im folgenden die Rede sein. Keramik hatte der Künstler schon früh zu beherrschen gelernt. 1959 greift er sie für den Spur-Prozess wieder auf. das farbig bemalte „nasobem“ von 1959[12] und Skulpturen wie eine unförmige, an der Oberfläche bearbeitete Frauenfigur mit kleinem Köpfchen rezipieren in ihrer Formenlosigkeit Art-brut-Motive. Nicht zu vergessen sind daneben Gretel Stadlers bemalte Tonskulpturen von 1958[13] Die in die anfänge der spur-zeit reichen, als sie und ihr späterer Mann Erwin Eisch noch als Gründungsmitglieder der Gruppe fungierten. aber Fischer entwickelt sich rasch weiter. die Hinwendung der Bronzen und Betonskulpturen (z.b. der „Reiterschlacht“) zu teigigen Formen, in denen die Oberfläche zunehmend an Bedeutung gewinnt, erfasst keramische Qualitäten, die 1962 in Skulpturen wie „Mondfrau“, „muhme“und „Tierfreund“[14] zum Ausdruck kommen, die die Qualitäten der Heizungsgitter besitzen und assoziativ Skulpturen von Max Ernst und Joan Mirò umsetzen.

Die immer dünnwandigeren Keramikskulpturen Lothar Fischers prägen seit 1962 das Oeuvre zunehmend. deutlich ist nun das Vorbild prähistorischer Keramik zu spüren, weniger in der Festlegung auf eine der vielen Kulturen als in der Übernahme keramischer Prinzipien wie den bauchigen Gefäßformen, den zylindrischen Füßen, Applikationen und angarnierten Henkeln. Ab und zu ist der Einfluss präkolumbianischer und dabei insbesondere der mesoamerikanischen Keramikproduktion der Tlatilco-, Puebla- und Nayaritkulturen auszumachen, die das gefäßhafte mit dem gestischen Ausdrucksvolumen verbinden. hierzu gehört etwa die „Lea“ von 1962, die dem Marinotti-Nachlass entstammt oder der „Henkelkopf“ aus dem gleichen Jahr eine weiterführende Skulptur dieser Zeit ist der „Anatom“. Auf zwei Kegelstümpfen ruht ein praller, taschenförmiger Hohlkörper, sozusagen mit Deckel und zwei Ösen, darüber schließlich eine kopfartige Bekrönung. der „Bauch“ ist geöffnet, man sieht ins hohle Innere, wo man als Eingeweide keramische Verbindungsstege ausmachen kann. Der Anatom ist die erste Skulptur dieser Art. Heinrich Mersmann bemerkte zu diesem Typus, der vor allem 1994 dominierte: „Die neueren Arbeiten Fischers zeigen, dass es ihn drängt, sein Material beim Zubereiten als offenes Gehäuse einsehbar zu machen und nicht nach der Formel „Skulptur hat Masse und verdrängt den Raum“ zu verfahren.![15] Technisch gesehen verrät der archaische Gnom hohes keramisches können. Zumeist sind diese Terrakotten in Fischers Mansarde in der Mariahilfer Straße der Münchner Au entstanden. Der lederbraune Ton ist grob gemagert, damit er nach dem Brand seine Stabilität bewahrt. Mit dem Draht werden fladenartige Stücke vom Tonblock abgeschnitten und hochkant zu den Gefäßwänden aufgebaut und durch Knicke stabilisiert.[16] Nähte werden bewusst sichtbar gemacht, Brandrisse einkalkuliert. Die Getriebenheit der Bewegungsintentionen weichen nun einer skurrilen Behäbigkeit, deren volkstümlich vertraute Gestik sich mit absurder Situationskomik überlagert. Eine weitere Neuerung stellen die nun sehr bewusst bemalten Keramiken dar, bei denen auch Gruppenarbeit mit den anderen Spur-Künstlern vorkommen kann. Farbige Fassung ist nicht einfaches anmalen. Fischer, der immer wieder aus dem Prozess des Zeichnens schöpft, legt das farbliche System über das Plastische und verschiebt die Akzente, so dass der Duktus der Keramik teil der Malerei wird und umgekehrt die Malerei sich plastisch krümmt. Zu dieser Serie gehört auch „Notre dame des fleurs«, ein Tonkegel in der Art des wandelnden Berges, der durch weiße Farbfelder und grafische Elemente ein hintersinniges Leben eingehaucht bekommt. Die Gestalt hat eher das Aussehen eines Zuhälters und gerne würde man ihm die „Mater profana“[17] Aus dem gleichen Jahr zuordnen, die das Marketenderinnentäschchen selbstbewusst an der Hüfte trägt.

Trotz Ausschluss der Gruppe Spur aus der „Internationale situationniste“, trotz Spur-Prozess, dem Fischer dadurch entgeht, dass er das beanstandete Heft 6 nicht mitunterschrieben hat, erfährt das künstlerische Schaffen der Gruppe Spur mit seiner Teilnahme an der Ausstellung „Visione colore« 1963 im Palazzo Grassi Venedigs seinen Höhepunkt. Fischer, der Marinotti in Mailand zuvor besucht hatte, teilt ihm in einem Brief vom 12.12.1961 mit, er habe den Titel für das Proiekt gefunden: „Figurazione“. Doch Marinotti hat u.a. noch Max Ernst, Asger Jorn und Dubuffet zur Ausstellung vorgeschlagen.

„Colore visione« bleibt eine Behauptung, da sie all das ausklammert, was die sechziger Jahhre mitgeprägt hat: das Wort, die Sprache, das Experiment, das Objekt, weder sind die Nouveaux Réalistes vertreten, noch Manzoni, die Gruppe Azimuth, Yves Klein oder die Pop Art aus New York.

Im Rückblick mag Marinotti, der sich nach 1965 von der Spur trennte, dies erkannt haben, eingestanden hat er es sich nicht. 1964 resümiert er: „So war es im Palazzo Grassi im Jahre 1963. Damals sagten dann die Kritiker, die sich zusammengefunden hatten, dass die Kunst heute, so mit der Malerei und dem Meißel und der Leinwand und dem Gips und so weiter zu Ende ist, denn heute haben uns Wissenschaft und Technik und Industrie sehr viel anderes geliefert...[18]8

Neben dem großen Raumbild „canal grande crescente“, das die Gruppe gemeinsam malt, werden Einzelarbeiten gezeigt. Lothar Fischer stellt in erleuchtete Vitrinen farbige Keramikskulpturen[19] , darunter auch neben dem grandiosen „Reiterschiff“ den „Orpheus“, der im Nachlass verblieb und den Fischer in einem Brief vom Januar 1964 ein „capolavoro“ nennt, während er dessen Bezahlung anmahnt. Das Schema kennt man: Ein buckelartiger Corpus mit mehreren stalakmitenähnlichen Beinchen. Hinzu kommt ein durchlöcherter keulenförmiger und insektenhafter Kopf, dessen „bucchi“ vielleicht durch Fontana angeregt wurde. aber Fischers „Orpheus“ ist aus einer anderen Welt, jener Max Ernsts und Dubuffets. Mal erinnert er an Barlachs „Sänger“, dann wieder an einen Vodoofetisch. Im „Sheriff“, der sich heute in den Museen der Stadt Regensburg befindet, ist eine ähnliche, eher noch humoristischere Variante zu sehen.[20]

 

1963 ist auch das Jahr des Spurbaus (Lenbachhaus München), einer Gemeinschaftsarbeit, die jedoch in ihrer plastischen pilzartigen Ausführung von Lothar Fischer stammt. in ihm wird der situationistische „unitäre Urbanismus“ Guy Debords, auch Constants Ideen eines neues Babylon nochmals auf Spur-Art spielerisch angegangen, nachdem klar war, dass das phantastische Architekturmodell auf der Pariser Biennale ausgestellt werden sollte. Es ist eine Antwort der IS-Ausgeschlossenen auf den „Fundamentalisten“ Debord. Lothar Fischer hat sich immer als Bildhauer verstanden, insofern kann man auch keinen Vergleich mit dem situationistischen Utopisten Constant anstellen, der seinen Begriff von Architektur an das „Dérive“ und das „Détournement“ Debords festgemacht hatte.[21] Am Ende war der Spurbau eine humorvolle bayerische Attacke auf die tief schürfende Recherche des Holländers. Die Groteske der Spur (zu erwähnen ist der Skulpturenpark auf der Spitze des Modells) war schließlich nicht weit entfernt von den futuristischen Stadtentwürfen eines Virgilio Marcchi von 1920. Nach dem Spurbau gab es keine weiteren urbanistischen Expeditionen der Gruppe. Vielmehr fesselte sie der Malanggan-Stil des Pazifik, dessen rhythmisierende Farb- und Formensprache die Spur nochmals zusammenschweißte.

Anders als Lucio Fontana, der seinen „barocken“ figurativen Terracotten der vierziger Jahre in die Abstraktion der „Löcher“ aufgelöst hatte, bekannte sich Lothar Fischer zu seinem beinahe Abstrakten, Aufgebrochenen und man möchte fast sagen situativen Skulpturenbegriff von 1964/65 mehr und mehr zu einer poetisch freien Figuration, der er viele Jahre treu geblieben ist.

 

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[1]   Nach einem Zitat von HP Zimmer

[2]   Gruppe SPUR 1958 .1965. Eine Dokumentation. Galerie van der Loo München, 1979, 43

[3]   Abbildung in: Gruppe SPUR 1958-1965, Lothar Fischer, Helmut, Sturm, Heimrad Prem, HP Zimmer, Galerie Christa Schübbe, Berlin 1991, 141 im Zusammenhang mit dem Wiederabdruck von Willi Lembruck, Lothar Fischer, Junge Kunst 1963/ 64, Köln 1964

[4]   Bernhard Krimmel, Karosserien der Idee, o.s., in Lothar Fischer, Plastiken und Zeichnungen, Kunstpreis der Stadt Darmstadt 1972

[5]   Gruppe SPUR (1979), op.cit., 16

[6]   Gruppe SPUR (1979), op.cit., ebenda

[7]   Abgebildet in: Gruppe SPUR (1979), op. Cit. 55

[8]   Abbildung in: Gruppe Spur, Hg. Von Veit Loers, Städtische Galerie regensburg 1986, 50 (Katalog Nr. 7)

[9]   In: Richard P. Hartmann, Malerei aus Bereichen des Unbewussten. Künstler experimentieren unter LSD, Köln 1974, 165.

[10] Abbildung in: Gruppe SPUR (1986), op. Cit., 15

[11] Abbildung in: Gruppe SPUR (1986), op. Cit., 23

[12] Abbildung in: Gruppe SPUR (1991), op.cit., 201

[13] Abbildung in: Gruppe SPUR (1986), op. Cit., 172

[14] Abbildung in: Gruppe SPUR (1991), op. Cit., 142 und 144

[15] Zitat nach Malerei aus Bereich des unbewussten, op. Cit. 160

[16] Bernd Krimmel, op. cit., o.s.

[17] Abblidung in: Gruppe Spur (1979), op.cit.,149

[18] Paolo Marinotti, Ananbasis, 1964. (Nachzulesen in diesem Buch auf Seite 15 und 16)

[19] Abbildung in: Gruppe SPUR (1979), 152

[20] Abbildung in : Gruppe SPUR (1986), 61

[21] s. Libero, „Stadtluft macht frei“, (Max Weber). Die urbane Politik der Situationistischen Internationale, in: Situationistische Internationale 1957-1972, Ausstellungskatalog Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien 1988, 11f.